Der verhängnisvollste Irrtum, den wir im Leben begehen können, ist zu glauben, dass wir uns selbst bereits kennen und festgelegt sind und nur noch die Welt um uns entdecken brauchen und verändern können.
Aber du bist hier, also bist du bereit für eine innere Entdeckungsreise. Wie schön. Lass' uns gleich hineinspringen in die Materie und der Sache auf den Grund tauchen.
Das menschliche Herz
Das Herzorgan
In diesem Text erkunden wir das menschliche Herz von verschiedenen Seiten und was sich in seinem inneren verbirgt.
Wir haben natürlich unser physikalisches Herz, welches tagein tagaus in unserer Brust schlägt. Dies ist eine der verbreitetsten Bedeutungen des Wortes "Herz" heute. Aber um diese Bedeutung, um das Organ und die Kardiologie, soll es hier nicht gehen.
Die Herzensebene
Der Mensch ist ein komplexes System. Um mit ihm gut umgehen zu können, sind Modelle hilfreich, die einfach genug für eine praktische Anwendung im Alltag sind und doch komplex genug, um den wichtigsten inneren Dynamiken des Menschen gerecht zu werden.
Eine einfache und praktische Beschreibung des Menschen, welche sich z.B. in der Yoga Philosophie findet, ist die Einteilung in vier Ebenen: die
- physische,
- mentale,
- Gefühls- sowie
- seelische Ebene.
Die Seele ist Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit. Ihr Tanzpartner ist die Energie in Form einer handlungsfähigen Persönlichkeit mit Gefühlen, Gedanken und einem Körper.
Dass wir in der Regel mit unserer Persönlichkeit identifiziert sind, ist ein Resultat unserer mangelnden Weisheit oder Jñana. Übrigens schwingt dieses Bewusstsein, dass wir nicht unsere Persönlichkeit sind, im Wort "Person" selbst mit. Das lateinische "personare" heißt wörtlich hindurchtönen, und das Wort "persona" bedeutet "Maske". Die Person ist nicht, was wir sind, sondern was wir haben. Unser wahres Selbst ist die glückselige, zeitlose Seele.

Die Gefühls- oder Herzensebene heißt im Yoga Karana Sharira (कारणशरीर, kāraṇa-śarīra), sie ist der innerste Ring der Persönlichkeit und der Seele am nächsten. Die Seele handelt am wirksamsten in drei Schritten, von innen nach außen: ein Wunsch entsteht, der Kopf sucht und plant, der Körper handelt und erreicht das Ziel. Nach Abschluss der Handlung und Erfüllung des Wunsches ist die Seele wieder glücklich, einfach zu sein, und um eine Erfahrung reicher.
Das ist etwas vereinfacht. In Wahrheit ist der Prozess meistens nicht linear. Im Menschen sind alle vier Ebenen gleichzeitig präsent: wir nehmen wahr, fühlen, denken und handeln parallel, und permanent fließen Informationen von einer Ebene zur anderen und zurück.
Aber die Hierarchie ist exakt so wie beschrieben. Was ist leichter: dein Gefühl zu ändern mit vernünftigen Argumenten? Oder Argumente zu finden für dein Gefühl? Richtig, letzteres. Der Verstand folgt von Natur aus dem Herzen. Auch wenn "rationale" Menschen natürlich von sich behaupten würden, rational zu operieren. Aber das ist überwiegend Selbsttäuschung.
Beziehungstiefe
Beziehungen haben ihren Schwerpunkt auf einer dieser Ebenen:
- bei physischen Beziehungen dominieren körperliche Kräfte - Attraktion, Überleben, materieller Besitz schweißen die Schwitzenden zusammen.
- bei geistigen Beziehungen verbinden einen Ideen, Theorien, Meinungen, Vorlieben, Interessen, Weltanschauungen. Typisch mental sind neben gemeinsamen Vorlieben auch ebensolche Abneigungen, z.B. gegen die falsche politische Partei, Glaubensrichtung oder Fußballverein.
- die Verbindung auf Herzensebene ist ungleich einfacher: hier dreht es sich um Bedürfnisse, Geborgenheit und Wohlwollen - hier fühlst du dich zuhause.
- die seelische Verbundenheit beruht auf einem gemeinsamen Sinn für "Sinn", Bewusstseinsentwicklung sowie generell zu einem Bezug zu etwas Größerem (auch wenn verschiedene Vorstellungen davon vorherrschen), als dessen Kinder man sich als Geschwister begegnet.
Entwicklung unseres Gefühlssinns
Ungleichgewicht
Die Verbindung mit unserem Herzen kann unterbrochen werden. Ich erinnere mich lebhaft an meine Jugend, als mir mein Klarinettenlehrer diesen Satz als Rückmeldung gab auf das geübte klassische Stück: Die Töne seien alle richtig, aber das Gefühl fehle noch.

Wie war es dazu gekommen?
Angeborene Herzensbeziehungsfähigkeit
Wenn ich mir Neugeborene und Kleinkinder anschaue, zeigen sie ganz klar und laut und deutlich ihre Gefühle. Fehlt ihnen etwas, rufen sie, und zwar so lange, bis sie bekommen was sie brauchen oder völlig erschöpft sind. Und eine Mutter springt in der Regel sofort emotional auf den Ruf ihres Kindes an, kann ihn nur schwer länger ertragen als nötig.
Hier haben wir fast immer eine Herzensbeziehung: beide Menschen fühlen, wie es dem anderen geht, ob sie wollen oder nicht. Ja, auch Kinder spüren sofort, wie es der Mutter geht. Schon im Mutterleib. Aber auch bei meiner dreijährigen Tochter habe ich erlebt, dass sie ihrer Mutter den Rat gibt, sich auszuruhen, weil sie erschöpft sei.
Disconnect
Nun, fühlen braucht Zeit, zumindest einen Moment des Innehaltens. Gestresst und in Hektik, wenn wir versuchen zu funktionieren, nehmen wir unsere Gefühle nicht mehr wahr, machen mehr Fehler, haben viel häufiger Konflikte, weil wir keine Geduld mit und kein Verständnis für den anderen haben. Dabei fehlt einfach die Zeit.
Ist dies ein Dauerzustand, kann das einer der Gründe sein, dass sich die vier Ebenen entkoppeln und ein Mensch den Zugang zu seinen Gefühlen verliert. Trauma kann auch ein Grund sein.
Und wächst ein Kind in einem solchen Umfeld auf, lernt es, das zu tun, was alle anderen auch mit ihren und seinen Gefühlen machen: sie zu ignorieren.

Dies ist vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse über Gesellschaft und Beziehungen: Man kann auch mit vielen Menschen um sich herum einsam sein. Z.B. weil die eigenen Gefühle nicht gesehen werden. Das ist gerade für ein Kind brutal, d.h. schmerzhaft und traumatisierend mit der Folge der Abspaltung der ungesehenen, scheinbar nicht liebenswerten gefühlvollen Anteile der Persönlichkeit des Kindes.
Gleichgewicht
Bei mir war es weder Trauma noch (eigener) Stress, sondern vor allem eine einseitige Entwicklung: Mein Verstand war stark, ich war wissbegierig, und lebte in einem bildungsaffinen Elnternhaus. Und so wuchs mein Verstand schneller als mein Körper oder mein Herz, und ich verließ mich bei allen Entscheidungen nur noch auf ihn. ich war als Jugendlicher kopflastig, was eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Physikerlaufbahn ist - aber nicht für tiefe, erfüllende Beziehungen.
Was ich für gelingende Beziehungen brauchte, war eine starke, weil ausgeglichenere Persönlichkeit: Mehr körperliche Präsenz z.B. durch Yoga Asanas und die Begegnung mit Tieren, sowie mehr Gefühlskompetenz, z.B. durch freies Tanzen und Musizieren.
Das energetische Herz
Das bekannteste energetische Modell des Menschen beschreibt sieben Energiezentren (Chakren, wörtlich Räder oder Wirbel), welche durch zahlreiche energetische Kanäle (Nadis) miteinander sowie mit kleineren Zentren und dem Rest des Körpers verbunden sind und ein Energiesystem über dessen physische Grenzen hinaus bilden, die menschliche Aura:
- Das Wurzelsupportzentrum am Steißbein (Muladhara)
- Das Lebendigkeitszentrum im Lendenbereich (Svadisthana)
- Das Willenszentrum im Sonnengeflecht / Solarplexus (Manipura)
- Das Herzzentrum in der Brust (Anahata)
- Das Kehlzentrum im Hals (Vishuddha)
- Das psychische Zentrum an der Stirne (Ajna)
- Das transzendente Zentrum am Scheitel (Sahasrara)
Gefühle haben ihren Sitz an bestimmten Orten. Während das Vertrauen (und Angst) am Steißbein zuhause ist, findet sich die Liebe (und die Einsamkeit) im Herzen - natürlich in unterschiedlichen Fraben. Während einem bei der Liebe das Herz aufgeht und erwärmt, führt Niedergeschlagenheit zu einem schweren Herzen.
Es gibt feinfühlige und hellsichtige Menschen, die wunderschöne Bilder der Aura malen. In Prozessen habe ich selbst bereits alle diese sieben Zentren in Aktion erleben können. Am häufigsten erlebe ich - aufgrund meiner herzzentrierten spirituellen Praxis - das Herzzentrum, welches wie das Auge eines kleinen Wirbelsturms durch die Mitte des Brustbeins führt.

Das göttliche Herz
Individualismus
Dass uns der Gemeinschaftssinn abhanden gekommen ist, ist nicht nur in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen spürbar, sondern auch in unserer Spiritualität.
Der moderne spirituell Suchende ist aufgeklärt (wie die Menschen zu allen Zeiten vor ihm es ebenfalls von sich behauptet haben), selbstbewusst und so intelligent, dass er selbst sich aus dem Angebotenen das zusammenmischt, was ihm am besten schmeckt. Ein Schelm wer da von blinden Flecken und Selbsttäuschung spricht. Aber jedem das seine.
Scientismus
Zurück zum spirituellen Weg. Der moderne Mensch übt sehr oft, achtsamer zu werden. Er übt einen bestimmten Zustand ein.
Aber wenn die alten (und neuen authentischen) Überlieferungen stimmen, ist der Kern des Menschen unsterblich. Und die Logik des Esoterikers fragt: wie kann etwas ewiges von einem zeitlich und von den Umständen bedingten Zustand abhängen? Warum einen Zustand jagen, der einen früher oder später wieder verlassen muss - denn nichts ist so beständig wie der Wandel in dieser Welt - wenn es etwas gibt, das den Tod überdauert?
Möglicherweise ist es der Stolz und die fehlende Offenheit dafür, dass Religionsgründer der ganzen Welt der letzten Jahrtausende etwas entdeckt hatten, was sich bis heute unserem Verstand entzieht. Bei manchen ist es vielleicht sogar Arroganz, die eigene Weltanschauung, die Wissenschaft, für allen anderen Weltanschauungen überlegen zu halten, ein Glaube 2.0 sozusagen, der unsere spirituelle Natur mit über Bord wirft.

Anstrengung und Unterstützung
Bei Menschen, die etwas bleibendes, unvergängliches suchen, gibt es wiederum solche, die dies aus eigener Kraft tun, und solche, die im Team arbeiten - und damit meine ich nicht die menschliche Sangha oder Community.
Wenn wir wirklich einen unvergänglichen Kern haben, ist keiner von uns der erste, diesen zu entdecken. Was ist mit all denen, die ihn vor uns entdeckt haben? Weil diese Wesen per definitionem den Verfall der Zeit überdauern müssen, sollte es sie noch irgendwie, irgendwo geben. Und hier betreten wir das Territorium der Götter. Das lustige ist: wir Menschen sind unserem Wesen nach nicht großartig verschieden von ihnen, Kinder Gottes sozusagen oder genauer gesagt, Kinder der Götter.
Und falls dein Herz am Einen hängt, auch das kann gleichzeitig wahr sein: ein Diamant, tausend Facetten. Oder wie die Yogis sagen: saguna und nirguna brahman - Gott mit Attributen, die vielfältig sein können, sowie Gott ohne Attribute, als unergründliches Mysterium. Oder viele Träume und gespielte Rollen in diesen, möglicherweise gleichzeitig, denn Zeit spielt für ein ewiges Wesen keine Rolle, aber nur ein Träumender, der diese ganz verschiedenen Träume in seinem Geist hat. Oder viele Zweige, aber eine Wurzel. Das eine er-gänzt das und führt zum anderen.
Aber lass' uns zu deinem und meinem Weg zurückkehren. Als jemand, der einen spirituellen Weg geht, bist du auf dem Weg, einer von ihnen zu werden. Und du bist bereits jetzt ein Teil dieser Familie, welche liebevoll ist jenseits unseres Vorstellungs- und Fassungsvermögens.
Wenn du erwachsen werden willst, was ist der einfachere Weg: alleine oder als Teil einer Familie mit bereits Erwachsenen lebend? Beim spirituellen Erwachen und Erwachsenwerden ist es genauso. Und doch schwitzen viele Meditierende auf ihrem Kissen. Ihr Seelenheil (oder wie auch immer die Buddhisten das nennen) hängt von ihrer Anstrengung ab.
Hingabe
Es gibt einen leichteren Weg, den Weg der Beziehung mit dem Göttlichen. Und weil dieses das ältere oder eltere Element ist, ist die angemessene Haltung des Lernenden eine der Demut und sogar Hingabe an das geliebte Gesuchte.
Aber weil auch du geliebt wirst, bist du frei, dich abzuwenden und dich alleine durchzuschlagen. Und egal ob materialistisch oder selbstzentriert meditierend bist du auf dich alleine gestellt.
Jesus erzählt eine Geschichte darüber: das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dieser Sohn verlässt den Hof seines Vaters, an dem es ihm an nichts mangelte. Er lässt sich sein Erbe auszahlen und geht alleine in die Welt hinein. Um die Geschichte abzukürzen: er verliert alles. Und als es ihm am Schlechtesten geht, erinnert er sich an seine Heimat in Fülle und seinen gütigen Vater und beschließt, zurückzukehren und um einen Platz als Diener zu bitten. Das Ergebnis? Sein Vater ist nicht abweisend, sondern lässt voller Freude über die Rückkehr des verlorenen Sohnes ein Fest veranstalten.
Ein weiteres Bild für die rechte innere Haltung ist das Gärtnern: gießen und düngen und Unkraut jäten kann und muss der Gärtner. Die Sonne scheinen und die Pflanze wachsen zu lassen indes vermag er nicht. Und täglich an der Pflanze zu zupfen bringt genauso wenig wie verzweifelt sich im Garten zu verausgaben, wenn alles Nötige getan ist. Die Pflanze wächst und reift und erblüht in ihrer eigenen Zeit.

Das Herz des Herzens
Nicht nur in meiner spirituellen Tradition wird das Herz als Sitz der Seele beschrieben. Und als solches habe ich es auch erlebt. Während bei Absorptionsmeditationen das Ajna-Chakra in der Stirne regelmäßig spürbar wurde, so ist es bei allen hingebungsvollen Aktivitäten das Herz. Es öffnet sich im Brustraum, wird weicher, wärmer und fröhlicher.
Manchmal treffe ich eine Trauer, die gespürt werden möchte bevor ein größerer Sonnenschein zurückkehrt. Das ein oder andere Mal war die Öffnung so stark, dass sie auch etwas geschmerzt hat, wie wenn ein Masseur einen verspannten Muskel drückt oder die Augen in die Sonne schauen. Aber es ist alles gut. Erwachsenwerden im alltäglichen wie im spirituellen Sinne ist nicht schmerzfrei, und könnten wir keinen Schmerz empfinden so wären wir ziemlich schnell wieder tot.
Was ich dir mitgeben möchte: wenn du das nächste Mal einen spirituellen Meister mit Herz siehst - z.B. das Herz Jesu - so weißt du, dass dies keine Metapher, nicht im übertragenen Sinne ist, zumindest nicht was den Ort anbelangt. Es geht wirklich um sein - und dein - Herzzentrum, in dessen Innerstem das Göttliche verborgen ist, darauf wartend sich zu offenbaren.

Zwei Dimensionen
Ich erlebe zwei Dimensionen der Herzensverbindung: mit anderen Menschen und dem Leben selbst.
Bei den Menschen kann sich die Weite (Familie, Gemeinschaft, Menschheit) sowie die Tiefe (förmlich distanziert bis hin zu offenherzig und verletzlich) unterscheiden. Dieser Unterschied ist der Hauptfaktor dafür, wie glücklich du bist und wie friedlich du am Ende deines Lebens gehen wirst. Liebst du sosehr wie du dies eigentlich möchtest? Zeigst du deine Liebe deinen Nächsten? Wie spüren sie sie, und wie spürst du ihre Antwort?
Im Spirituellen gibt es ebenso Unterschiede:
- Die Schlafenden oder Unbewussten oder Verlorenen, die sich nicht für ihre eigene Seele und ihren eigenen wahren Willen interessieren.
- Die sterblichen Suchenden, die gemäß ihrer Religion der Vernunft nur Achtsamkeit kultivieren, und
- die Unsterblichkeit Suchenden, die zur ewigen Seite der Wirklichkeit erwachen. Alle diese sind in meinen Augen, und ganz frei von Wertung, "verlorene Söhne". Zu guter letzt gibt es noch
- diejenigen, die gefunden haben und als Teil der göttlichen Familie spirituell erwachsen werden.
Alle Beziehungen, die es wert sind kultiviert zu werden, führen durch das Herz. Bleibt dein Herz verschlossen, bleibt dir die Glückseligkeit dieser Beziehungen verwehrt. Hast du den Mut zur Demut, findest du, dass all diese Schätze dein Erbe sind, das Natürlichste der Welt, und du wunderst dich, wie wir das vergessen konnten.
Fazit
Egal, welche Art von Beziehung wir betrachten - Partnerschaft, Familie, Beruf oder Spiritualität - das Herz ist der Schlüssel zu und das Zuhause von richtig starken Verbindungen. Und das ist nicht nur angeboren, das lässt sich auch wiederherstellen.
Das ist meine Gabe (wobei ich nicht mehr tue als dich als eigenverantwortliches Wesen zu begleiten), und ich liebe jeden Moment, in dem ich diese heilig-heilsame Arbeit machen darf.
Und wie wir dieses mysteriöse Herz als Kompass zum Navigieren unseres Lebens nutzen können, das üben wir dann in den Trainings und Mentorings.
